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Christian Boltanski Zeit

12.11.2006
11.02.2007

Ausstellungsgebäude

Bilder der Ausstellung

Die Ausstellung

Der Künstler
Am 18. Oktober 2006 wird Christian Boltanski mit dem Nobelpreis der Künste, dem Praemium Imperiale ausgezeichnet. Zu Recht. Denn der Franzose Christian Boltanski (*1944), einer der wichtigsten Gegenwartskünstler weltweit, ist ein Meister der Inszenierung von Situationen und Räumen. In ihnen evoziert und befragt er machtvoll zentrale Parameter menschlichen Daseins wie Lebenszeit, Identität, Körper, Tod und Vermächtnis.

Die Ausstellung
Für »Zeit«, seine erste große monographische Schau in Deutschland seit zehn Jahren, verbindet Christian Boltanski bereits bestehende sowie neue, eigens für die Ausstellung auf der Mathildenhöhe Darmstadt entwickelte Arbeiten zu einer einzigen raumübergreifenden Totalinstallation. Hochkarätige Leihgaben aus den Sammlungen des Musée national d’art moderne, Centre Pompidou Paris und dem dänischen ARKEN Museum of Modern Art sind ebenso zu erleben wie bislang kaum bekannte frühe Filme des Künstlers. Die kathedralhohen Säle des Ausstellungsgebäudes Mathildenhöhe werden dabei zum Echoraum seiner Autobiographie, die – ob nun fiktiv oder real – stets seine Kunst der Erinnerung grundiert.

Die Zeitungsbeilage
Zur Vernissage von »Zeit« am 11. November 2006 erscheint im Darmstädter Echo eine 12seitige Zeitungsbeilage, exklusiv gestaltet von Christian Boltanski. Mit ihrer Verschmelzung von informativen und genuin künstlerischen Elementen in der Mimikry des Zeitungslayouts wird die Beilage »Christian Boltanski. Zeit« selbst zum Kunstwerk.

Die Plakataktion
Die Kunst-Plakataktion Les regards lässt Großplakate gleich Partisanen im Werbedschungel von Frankfurt und Darmstadt auftauchen. Gewaltige Augenpaare machen aus den anonymen Werbeflächen Subjekte. Ihr Augenblick thematisiert ebenso die Momenthaftigkeit von Zeit wie Sein. Ein Echo dieser Plakataktion im öffentlichen Raum findet sich für die Dauer der Ausstellung an der Außenfassade des Ausstellungsgebäudes Mathildenhöhe. Hier blicken die Augen weit über Darmstadt hinweg und leihen dem »Zeit«-Schauplatz ihren Blick.

Der »Zeit«-Parcours
Zwei Werke stehen paradigmatisch für die Ausstellung »Zeit«. Da ist zum einen das Herz des Künstlers. Es schlägt auf der Mathildenhöhe Darmstadt: am Anfang der Ausstellung, am Ende eines langen, schmalen Korridors. Eine Glühbirne leuchtet dort auf und erlischt, synchronisiert mit der Tonspur des Herztaktes von Christian Boltanski. Verstärker lassen uns gleichsam in den Künstler hineinhorchen, seinen Lebensrhythmus hören. Le cœur (2005) – ein Dokument radikal subjektiver Lebenszeit und ihrer Fragilität. Da ist zum anderen die automatische Zeitansage. Sie spricht auf der Mathildenhöhe Darmstadt: am Ende der Ausstellung, aus allen vier Ecken der großen Halle. »Beim nächsten Ton ist es … Beim nächsten Ton ist es …« Horloge parlante (2003) realisiert die Weltzeit in ihrer gnadenlosen Unerschütterlichkeit. Ohne eine Möglichkeit des Entkommens vergeht die Zeit. Boltanski selbst vergleicht sie mit der Mitleidlosigkeit von Chronos: »Angesichts dieses von jedwedem menschlichen Schicksal ungerührten griechischen Gottes, der weder Gut noch Böse kennt, werden alle menschlichen Bemühungen, das Leben selbst, der Kampf gegen den Tod, der Versuch, irgendetwas zu tun, nichtig. Denn eines ist stärker als wir, und zwar das ewige Fortschreiten der Zeit, die nie anhält und zwangsläufig zum Tod führt.«

Diese beiden Toninstallationen stehen für einen Paradigmenwechsel in Christian Boltanskis Œuvre. Schob der Künstler früher immer neue Distanzierungsmomente und doppelte Böden in seine Kunst ein, fiktionalisierte Geschichte und Biografie, seine eigene ebenso wie die anderer Menschen, so ist es heute sein Herz, das wir schlagen hören und seine Lebenszeit, die unerbittlich abläuft. Es sind seine Dokumente in den Vitrinen (La vie impossible de C. B., 2001), seine Toten an der Wand (Mes morts, 2002), seine Kranken im Saal (Les lits, 1997/98), und es ist sein Gesicht, das unaufhörlich altert (Entre temps, 2003). »Damals handelte es sich um den Tod der anderen. Heute wird es mehr und mehr mein eigener Tod.« Deshalb zeigt »Zeit« auch eine Auswahl seiner bislang kaum bekannten frühen Filme. Familienmitglieder spielen dort das Alter Ego des Künstlers und zeichnen, so man Boltanskis heutigen Worten über seine Kindheit Glauben schenkt, ein atmosphärisch genaues Bild der Enge und Bedrängnis von Physis wie Psyche (L’homme qui tousse, 1969), ein zugespitztes Bild von Isolation und lakonischer Hoffnungslosigkeit (Essai de reconstitution des 46 jours qui précédèrent la mort de Françoise Guiniou,1971).

Unterschiedlichste Aspekte von Zeit drängen sich in Boltanskis Arbeiten des letzten Jahrzehnts immer mehr in den Vordergrund, subjektive wird mit objektiver Zeit, Lebenszeit mit Weltzeit kontrastiert. Doch die Ausstellung »Zeit« verdichtet nicht nur Christian Boltanskis Zeit-Bilder, sondern darüber hinaus auch die Zeit seines Werkverlaufs, um Grundlinien seiner Arbeit sichtbar zu machen. Die zwanghafte Autoaggression jenes Mannes, der rote Farbe wie Blut hustet, begegnet so der Gewalt des Publikums im Scratch Room (2002/2006), das durch die Freilegung der Fotos von Opfern unweigerlich zum Täter wird. Die qualvoll stillen sechsundvierzig Tage bis zum Tod der Françoise Guiniou folgen dem nervtötend zwitschernden Mediengewitter der sechzig 6 septembres (2005), die in zweitausendfacher Beschleunigung über die Projektionsleinwände flackern – das Einzelschicksal ist letztlich ebenso wenig fassbar wie das kollektive Gedächtnis eines Jahrhunderts.

Weitere Werke und Installationen der Ausstellung »Zeit«: Bébés négatifs (2002), Les containers (2006), Zeyt (2001), Tot (2001), Prendre la parole II (2006), Les regards (2004/2006)

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